„Man kann nicht genug Feste für Kinder feiern!“

Der Internationale Tag der Kinderrechte macht darauf aufmerksam, dass die Jüngsten in der Gesellschaft besonderen Schutz benötigen

Das Interview führte Benjamin Zilkens -Supersonntag

Es ist gerade einmal 30 Jahre her: Am 20. November 1989 verabschiedete die UN-Vollversammlung das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“. Diese wurden dadurch völkerrechtsverbindlich. Vorausgegangen war ein jahrzehntelanger politischer Prozess. Kommissionen tagten und machten Vorschläge, das Jahr 1979 wurde gleich ganz zum „Internationalen Jahr des Kindes“ erklärt. Was lange währt, wird endlich gut. Aber stimmt das? Über das Thema Kinderrechte hat der Super Sonntag mit Ulla Wessels, Geschäftsführerin des Ortsverbands Alsdorf-Herzogenrath-Würselen des Deutschen Kinderschutzbunds, gesprochen.

Ulla Wessels ist Geschäftsführerin des Ortsverbands Alsdorf-Herzogenrath-Würselen des Deutschen Kinderschutzbunds. Foto: DKSB

Frau Wessels, ist der 20. November, der Internationale Tag der Kinderrechte, für Sie ein echter Tag zum Feiern?

Ulla Wessels: Jein! Zum einen steht mehr als 25 Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland am 5. April 1992 die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz immer noch aus. Und bei Entscheidungen in Politik, Verwaltung und Rechtsprechung wird das Kindeswohl bis heute nicht ausreichend berücksichtigt. Andererseits gibt es jedoch einen breiten politischen Konsens: So hat sich die Bundesregierung selbst im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern. Bis Ende dieses Jahres soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe dafür einen Vorschlag erarbeiten.

Inwiefern unterscheiden sich denn die Rechte der Kinder von denen der Erwachsenen?

Wessels: Kinderrechte sind in erster Linie Menschenrechte. Der Unterschied besteht darin, dass Kinder besonders schutzbedürftig und abhängig von der Fürsorge Erwachsener und staatlicher Systeme sind. Kinderrechte beziehen sich auf den besonderen Schutzstatus von Kindern, wie Schutz vor Gewalt – auch zum Beispiel bei Straßenkindern oder Kindern aus Kriegsgebieten – und Missbrauch. Oder das Recht auf Bildung, Gesundheit und ein sicheres Zuhause, wenn Kinder nicht in ihrer Familie groß werden können.

Welche expliziten Rechte haben Kinder? Und sind auch Jugendliche einbegriffen?

Wessels: Die UN-Kinderrechtskonvention definiert in ihrem Artikel 1, welche Personen das Übereinkommen schützt: Kinder sind danach grundsätzlich alle Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Somit gilt die Konvention auch für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahre. Insgesamt definiert die UN-Kinderrechtskommission 41 Rechte. In der Regel werden oft die wichtigsten zehn Kinderrechte aufgeführt: das Recht auf Gleichheit, Gesundheit, elterliche Fürsorge, Privatsphäre und persönliche Ehre, Schutz im Krieg und auf der Flucht, Schutz vor Ausbeutung und Gewalt, Recht auf Spiel, Freizeit und Ruhe sowie das Recht auf Betreuung bei Behinderung.

Wie sieht es denn mit der Einhaltung der Kinderrechte aus? Gibt es regionale Unterschiede, und wo ist es besonders schlecht um Kinderrechte bestellt?

Wessels: Natürlich gibt es regionale Unterschiede. Grundsätzlich genießen die Kinderrechte in Deutschland derzeit eine hohe gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit. In 15 von 16 Verfassungen der Bundesländer, außer in Hamburg, finden sich Kinderrechte in unterschiedlicher Ausprägung. Doch vor allem in den Staaten des Südens verschlechtern Umweltverschmutzungen und der Klimawandel die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen. Extreme Dürren, schlechte Ernten und Überschwemmungen verschärfen in vielen Regionen der Welt Hunger, Migration, bewaffnete Konflikte und den Ausbruch von Krankheiten.

Kehren wir mal vor der eigenen Haustür: Wie ist es denn um Kinderrechte bei uns bestellt? Wo werden, vielleicht auch in ganz alltäglichen Situationen, Kinderrechte missachtet?

Wessels: Es gibt viele Beispiele, die zeigen, dass es bei uns nicht vorbildlich läuft. Aktuell wachsen laut Bertelsmann Stiftung 2,6 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Deutschland in einer Familie auf, die armutsgefährdet ist oder Leistungen der Grundsicherung (SGB II) bezieht. Dazu kommen viele Familien, die aus den verschiedensten Gründen keine Leistungen beantragen. Die Dunkelziffer von Kinderarmut ist also hoch. Diese Kinder erleben tagtäglich, was es bedeutet, wenn das Geld für den Schulausflug kaum aufgebracht werden kann, die zu kleine Winterjacke noch eine Saison länger reichen muss, ein Auto oder Urlaub nicht zu realisierende Träume sind oder Freunde nicht mit nach Hause kommen können, da das Geld für eine zusätzliche Person bei Tisch nicht reicht. Das betrifft auch die Bildungschancen. Kinder aus sozial schwächeren Familien oder Kinder mit nicht deutscher Herkunftssprache haben deutlich geringere Chancen auf einen guten Schulabschluss. Zudem ist die personelle, technische und finanzielle Ausstattung der Schulen nach wie vor unzureichend. Der Schulalltag ist vielfach durch Lehrermangel und Unterrichtsausfall geprägt. Der gleiche Fachkräftemangel gilt für die Kindertagesstätten. Ein weiteres Beispiel: Für familiengerichtliche Verfahren existieren gesetzliche Regelungen zur Kinderbeteiligung. In der Praxis findet allerdings nicht immer eine Anhörung statt. Eine Untersuchung von 318 Fällen ergab, dass im Kontext eines Kindeswohlverfahrens 60,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht angehört werden. Bei den 14- bis 18-Jährigen waren es 21,2 Prozent. Viele Kinder fühlen sich in Gerichtsverfahren häufig sehr schlecht informiert, eingeschüchtert oder von den Erwachsenen nicht ernst genommen.

Wo fängt denn eigentlich die Missachtung von Kinderrechten an?

Wessels: Ganz einfach: Überall da, wo Kinder nicht altersentsprechend gehört und beteiligt werden. Hierbei liegt natürlich die Betonung auf „altersentsprechend“. Und natürlich da, wo der Schutz von Kindern und die Sicherstellung ihrer Grundbedürfnisse gefährdet sind.

Was gibt es für Beispiele, bei denen Kinderrechte ausdrücklich beachtet werden? Oder anders: Was hat die Verabschiedung der Kinderrechts-Konvention Positives bewirkt?

Wessels: Sicherlich ist der Blick auf Kinderrechte durch die Verabschiedung und die vielen Diskussionen, wie die Konvention in die nationalen Rechte Einzug erhalten soll, noch einmal ganz anders geschärft worden. Wenn wir auf die Breitenwirkung im öffentlichen Raum schauen, existieren in etwa fünf Prozent der rund 11.000 Kommunen in Deutschland dauerhaft angelegte Kinder- und Jugendgremien, die oftmals über Beratungs- oder Mitwirkungsrechte verfügen. In etwa ein bis zwei Prozent der Kommunen arbeiten hauptamtliche Kinderbeauftragte oder es existieren Kinderbüros, die die Interessen der Kinder gegenüber den kommunalen Verwaltungen vertreten. Das ist natürlich weit von einer flächendeckenden Absicherung entfernt – ist aber schon einmal ein hoffnungsfroher Anfang.

Drohen eigentlich Konsequenzen, wenn Kinderrechte nicht eingehalten werden?

Wessels: Das kommt natürlich darauf an, welche Rechte nicht eingehalten werden. Bei Gewalt und Missbrauch drohen natürlich Konsequenzen! Bei zum Beispiel der Nicht-Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Sorgerechtsverfahren oder der drohenden Unterversorgung in den nächsten Jahren mit Kinder- und Jugendärzten tragen nur die Kinder die Konsequenzen. Auch rituelle Genitalverstümmlungen bei Mädchen und Jungen werden immer noch als Elternrecht angesehen, und die Kinder sind es, die hier ein Leben lang die Konsequenzen tragen.

An wen kann man sich wenden, wenn man bemerkt: Hier werden Kinderrechte nicht geachtet?

Wessels: Auch hier kommt es darauf an, welches Recht und in welcher Art es verletzt wird. Bei Gewalt, Missbrauch sowie Pflege und Adoption sind staatliche Behörden wie Jugendamt und Polizei zuständig. Wird bei einem Kind das Recht auf Freizeit, Hobby, Spielen und Freunde verletzt, kann man mit der Familie, in der das Kind lebt, sprechen und vielleicht Unterstützung anbieten. Fällt einem Ausgrenzung eines Kindes auf, kann man mit Schule oder Kita reden. Es gibt also schon einen Unterschied zwischen justiziablen Rechten und Rechten, die nicht einklagbar beziehungsweise juristisch verhandelbar sind. Langfristig abgesicherte Beschwerdestellen auf kommunaler Ebene sowie auf Landes- und Bundesebene, bei denen Kinder und Jugendliche ihre Rechte einfordern können, fehlen noch immer.

Braucht es überhaupt einen „Aktionstag“, um auf die Rechte von Kindern aufmerksam zu machen?

Wessels: Ich halte einen Aktionstag für sehr wichtig. So wie es Gedenktage zur Erinnerung an besondere Ereignisse gibt, bringt ein Aktionstag für Kinderrechte das Thema noch einmal ins Bewusstsein. Denn es geht um nicht weniger als um die Forderung: Kinderrechte ins Grundgesetz – jetzt!

Sollte man auch die Kinder selbst dafür sensibilisieren, damit diese sich für ihre Rechte einsetzen? Wie kann das geschehen?

Wessels: Das ist sehr wichtig und wird in vielen Einrichtungen wie Schulen, Kitas und Heimen schon gemacht und von den Kinderschutzvereinen unterstützt. Es gibt viele Beispiele, wie wir Kinder auf ihre Rechte aufmerksam machen können: über Malaktionen oder Prozesse der Mitentscheidung schon der Kleinsten in der Kita. In Würselen haben wir Kinder in einer Postkartenaktion gefragt, was sie machen würden, wenn sie Bürgermeister der Stadt wären. Und die Kinder sprechen mit dem Bürgermeister dann auch darüber.

In Deutschland wird am 20. September zusätzlich der Weltkindertag gefeiert…

Wessels: Wir haben zum Weltkindertag in diesem Jahr die Kinderrechte zum Thema gemacht. Und feiern diese am 20. November einfach noch einmal. Man kann nicht genug Feste für Kinder feiern! Sie sind unsere Zukunft, haben einen klugen, ehrlichen und unvoreingenommenen Blick auf viele Dinge und sind so vielen Gefährdungen ausgesetzt, wie man nach den letzten, schrecklichen Missbrauchsfällen wieder einmal sieht. Somit muss man auf sie aufmerksam machen, sie schützen und ihren Rechten Raum verschaffen. Und wenn sie Hilfe brauchen, zum Beispiel nach widerlichen Übergriffen von Erwachsenen, müssen Geld und Ressourcen bereit gestellt werden, damit sie ihr weiteres Leben bewältigen können. Für verurteilte Straftäter werden mehrere tausend Euro monatlich für die Unterbringung in Gefängnissen gezahlt – diesen monatlichen Betrag würde ich mir auch für jedes misshandelte Kind zur Bewältigung seines Traumas wünschen. Und noch mal den gleichen Betrag für die Präventionsarbeit, damit es erst gar nicht zu solchen Taten kommt. Träumen darf man ja mal wie ein Kind…

Fachveranstaltung Kinderrechte

Haben Kinder das Recht, über die Regeln in ihrer Kita mitzuentscheiden? Haben Kinder das Recht, selbst zu entscheiden, ob, wann und von wem sie sich wickeln lassen? Wenn ja, wie können wir dieses Recht umsetzen? Partizipation ist schließlich ein Recht von Kindern!

In Kooperation laden der Kinderschutzbund Aachen, der Kinderschutzbund Würselen und das Bildungsbüro der Städteregion Aachen für Mittwoch, 20. November, zu einer Fachveranstaltung zum Thema „30 Jahre Kinderrechte – Kinder sind Expert/innen in eigener Sache“ in die Aachener Citykirche ein. Der Kinderschutzbund Aachen präsentiert ab 14 Uhr in einer Ausstellung die Bilder, die die Vorschulkinder der Kita St. Elisabeth zu Kinderrechten gemalt haben, und alle Anwesenden haben die Möglichkeit, den daraus entstandenen Kalender zu kaufen. Gegen 14.30 Uhr startet der Kinderschutzbund Aachen mit einer Kinderpressekonferenz. Kinder der Schulen Michaelsbergstraße,Hugo-Junkers-
Realschule, Couven Gymnasium sowie der Kita St. Elisabeth werden Rede und Antwort stehen zu Kinderrechten, die ihnen besonders wichtig sind. Im Anschluss, ab 16 Uhr, spricht Referentin Antje Würsig (Multiplikatorin „Kinderstube der Demokratie“) über die Kinderrechte und deren Umsetzung im Kita-Alltag. Beispiele guter Praxis stellen sich vor und laden zum Austausch und zur Vernetzung ein.