geführt von Thomas Vogel (AN)
Nordkreis Um Kinderrechte geht es am Weltkindertag, der in Deutschland immer am 20. September gefeiert wird. Um Kinderrechte geht es auch Ulla Wessels und ihren Kollegen beim Kinderschutzbund, Ortsverband Würselen-Alsdorf-Herzogenrath. Wessels (57) ist Diplom-Pädagogin, systemische Familientherapeutin, Mediatorin und seit rund 20 Jahren Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbunds im Nordkreis, wo der Verband etliche Angebote und Einrichtungen trägt.
Kindergruppen für Mütter mit Babys, für Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind, ein Familienzentrum, eine offene Ganztagsschule, einen Kinderkleiderladen
Unser Redakteur Thomas Vogel hat sie zum Interview getroffen.
Frau Wessels, wie hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?
Wessels: In vielen Familien sind mittlerweile beide Elternteile erwerbstätig, um den Lebensunterhalt sichern zu können. Und wenn nicht beide Elternteile berufstätig sind, können sie von einem Gehalt oft einfach nicht mehr leben. Das sehen wir zum Beispiel im Kinderkleiderladen, wo die Nachfrage sehr gestiegen ist. Dadurch hat der Druck auf viele Familien enorm zugenommen. Auch die neuen Medien tragen ihren Teil bei. Junge Eltern, die mit Kaffee-to-go in der einen Hand und dem Smartphone in der anderen ihre Kinder in der Kita abgeben, erleben wir immer wieder. Die Erziehungsgestaltung innerhalb der Familie leidet und auch die Rückmeldung der Kolleginnen aus den Beratungsgesprächen zeigt, dass es mit der Erziehungskompetenz der Eltern schwieriger geworden ist.
Der Jahresbericht 2017 des Kinderschutzbundes Würselen, Alsdorf, Herzogenrath hat mit der Feststellung begonnen, dass Kinderarmut in Deutschland als Thema aktueller ist, denn je. Wie schlägt sich das im Nordkreis nieder?
Wessels: Das zeigt sich schon bei der Einschulung, wenn Familien Unterstützung brauchen, ohne die sie Schulmaterialien nicht besorgen könnten. Oder, wie schon angesprochen, erleben wir es in unserem Kleiderladen. Die Kolleginnen machen die Abrechnung einmal im Monat mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Einnahmen sind mit den Jahren immer weiter gestiegen. Aber nicht, weil für ein Höschen dort statt 1 Euro mittlerweile 1,50 Euro verlangt wird, sondern weil immer mehr Familien dort einkaufen müssen.
Am Mittwoch feiert Deutschland den Weltkindertag. Feiern Sie mit?
Wessels: Das machen wir, mit einer Aktion in der offenen Ganztagsschule Weiden-Linden, wo wir gemeinsam mit Eltern und Kindern ein Fest feiern, bei dem es viele Spiele geben wird, wo Hotdogs gemacht werden, bei dem wir aber auch auf Kinderrechte aufmerksam machen wollen.
Wenn Sie zum Weltkindertag einen Wunsch frei hätten — welcher wäre das?
Wessels: Dass Gewalt gegen Kinder in unserer Arbeit keine Rolle mehr spielen muss.
Hat sich die Zahl der Fälle in dieser Hinsicht verändert?
Wessels: Sie bewegt sich auf einem gleichbleibenden Niveau, wobei der Druck in den Familien steigt und auf der Liste der Kindeswohlgefährdungen ein Thema verstärkt auftaucht: Trennung und Scheidung der Eltern. Wenn es in der Vergangenheit um das Thema Kindeswohlgefährdung ging, kamen vor allem sexueller Missbrauch oder Schläge zur Sprache. Aber die Trennungs- und Scheidungsgeschichten und die psychische Gewalt, der Kinder da ausgesetzt sind … das hat eine neue Dimension erreicht. Ich habe selber Beratungen gemacht und erlebt, mit welcher Unversöhnlichkeit sich manche Eltern gegenüberstehen, die ihre Kinder darüber aus dem Blick verlieren. Die Schwierigkeit für Kinder, mit diesen Loyalitätskonflikten zurechtzukommen — das ist ein neues Thema der Kindeswohlgefährdung.
Können sich Familien in solchen Schwierigkeiten an den Kinderschutzbund wenden, und Sie versuchen, das Problem zu entknoten?
Wessels: Wir versuchen es. Es gibt Eltern, die mitarbeiten und es gibt Eltern, da geht es keinen Schritt voran. Eher noch zurück.
Was bleibt in solchen Fällen übrig?
Wessels: Letztendlich, wenn sie so verstrickt sind und nicht mehr in der Lage, nach den Kindern zu schauen, dann kann es nur noch zum Gericht gehen. Da können auch wir dann nichts mehr machen.
Gibt es auf der anderen Seite Ansätze, gegen Kindeswohlgefährdung vorzugehen, von denen Sie wenig halten?
Wessels: Jeder Träger der freien Jugendhilfe muss ein Konzept haben, wie er bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorgeht. Die große Gefahr ist: Wenn man wie ein Elefant in den Porzellanladen in ein Familiensystem hineinpoltert, in dem Missbrauch geschieht, schließt es sich und macht dicht. Der Druck auf die Kinder, zu schweigen und sich nicht mehr zu öffnen, wird größer. Das Jugendamt wird erst in letzter Instanz aktiv. Wenn in einer Kita oder Schule auffällt, dass in einer Familie etwas nicht in Ordnung ist, dann wird zunächst einmal das Gespräch mit den Eltern und dem Kind gesucht. Das ist eine ganz sensible Angelegenheit, bei der es darauf ankommt, die Eltern mit ins Boot zu holen. Was auf keinen Fall geht ist, dass jemand mit Zetteln durch die Straßen läuft und verlangt, es müssten überall Kameras aufgehängt werden. Das ist ein absolutes No-Go.
Gibt es ein Thema, von dem sie sagen: Das ist am drängendsten, da muss sich schnell etwas ändern?
Wessels: Ja, das Thema gibt es und es heißt Kinderbetreuung. Was ich im Moment in Kindergärten und Schulen sehe und was durch den Fachkräftemangel an reiner Verwahrung in Einrichtungen passiert — auf Kosten der Kinder und auf Kosten der Menschen, die dort arbeiten —, das macht mir Sorgen.
Mehr Personal wäre also die Lösung. Sehen Sie, woher das kommen könnte?
Wessels: Nein, im Moment nicht. Wir sind hier in der Euregio und auch die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien sucht dringend Personal, Luxemburg sucht dringend Personal, wir suchen dringend Personal und alle fangen an, sich gegenseitig die Kräfte abzugraben.
Gibt es denn auch Dinge, die sich aus Ihrer Sicht verbessert haben?
Wessels: Der Blick auf die frühkindliche Erziehung, würde ich sagen, hat sich schon verbessert — dass es eben nicht frühkindliche Verwahrung bedeutet. Allerdings gilt die bereits angesprochene Einschränkung: der Personalschlüssel ist, befeuert durch den Mangel an Fachkräften, eine Katastrophe.