30600 Kinder gelten in der Städteregion als arm

Das sind 16,9 Prozent aller in der Region lebenden Kinder. (im Vergleich: 14,7 % Deutschland, 18,6 % NRW)

Region. Die Zahlen sind alarmierend: In der Städteregion ist laut Bertelsmann-Studie jedes fünfte Kind arm, im Kreis Düren jedes sechste, in den Kreisen Heinsberg und Euskirchen jedes siebte und achte. Damit liegt die Region insgesamt über dem Landesdurchschnitt. Als arm gelten laut Studie Kinder, die in Familien aufwachsen, die von staatlicher Grundsicherung leben.

Hinter der Statistik verbergen sich persönliche Schicksale und Geschichten. Das sind Kinder, die morgens mit leeren Mägen das Haus verlassen, Eltern, die das Mittagessen ihrer Sprösslinge in der Schule nicht zahlen können oder auch Familien, die sich keinen Urlaub leisten können, ja vielleicht sogar nicht mal kleine Unternehmungen.

„Es gibt unterschiedliche Formen der Kinderarmut“, weiß Ulla Wessels, Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes Alsdorf-Herzogenrath-Würselen. „Viele von Armut betroffene Familien wollen in der Gesellschaft nicht auffallen und bemühen sich, mitzuhalten, indem sie ihren Kindern teure Markenkleidung oder das neueste Handy kaufen, obwohl sie sich das eigentlich nicht leisten können. Sie wollen nach außen den Schein wahren“, berichtet Diplom-Sozialpädagogin Gabi Dovern.

Als Leiterin der ambulanten Hilfen zur Erziehung bietet sie im Auftrag und in Kooperation mit den Jugendämtern sozialpädagogische Familienhilfe an. Durch ihre Arbeit bekommt sie täglich zu spüren, was Armut für die Familien bedeutet. „Ich habe schon mitbekommen, dass eine Mutter mit vier Kindern am Wochenende nichts mehr zu essen hatte. Durch Spendengelder konnten wir ihren Kühlschrank mit Grundnahrungsmitteln füllen“, nennt Gabi Dovern ein Beispiel. Besonders gravierend sind die langfristigen Folgen von Armut, denn für viele Kinder, die Hartz IV beziehen, ist sie ein Dauerzustand. Betroffene leiden oftmals unter sozialer Ausgrenzung und unter einem geringen Selbstwertgefühl. Laut Bertelsmann-Studie sind besonders Kinder alleinerziehender Elternteile, Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und Kinder, die drei oder mehr Geschwister haben von Familienarmut betroffen. Die Mehrheit wächst über einen längeren Zeitraum in Armut auf. 57 Prozent der betroffenen jungen Menschen im Alter von sieben bis unter 15 Jahren bezogen bundesweit drei Jahre und länger staatliche Unterstützung nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Kinderarmut ist kein neues Phänomen. Auffällig ist jedoch, dass die Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, steigt – und das trotz Bildungs- und Teilhabepaket sowie zahlreicher Förder- und Unterstützungsangebote der einzelnen Kommunen. Wie passt das zusammen? „Es gibt zwar staatliche und kommunale Hilfsangebote, aber teilweise ist es hoch kompliziert, den Durchblick zu gewinnen und Anträge zu stellen“, weiß Ulla Wessels.

Zudem sei es nicht einfach, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. Die Ursache schreiben Ulla Wessels und Gabi Dovern auch der Politik zu, die bessere Bedingungen für Familien schaffen müsse. Positive Erfahrungen hat sie persönlich im Nachbarland Belgien gemacht, wo ihre Kinder einige Jahre die Schule besucht haben. „Dort gibt es keinen Kita-Beitrag und die erste Schulausstattung für die Kinder haben die Eltern kostenlos bekommen, ganz ohne einen Antrag zu stellen“, erzählt sie.

Neben der materiellen Armut gibt es Eltern, die aus mangelndem Verantwortungsbewusstsein, Unwissenheit oder wegen persönlicher Probleme ihre Kinder vernachlässigen und nicht genug fördern. Hier sind die Kinder nicht nur finanziell, sondern auch emotional benachteiligt. In solchen Fällen ist ein Ausweg besonders schwierig. „Unsere sozialpädagogische Familienhilfe zielt darauf ab, Teufelskreise zu durchbrechen und neue Wege aufzuzeigen. Das ist nicht immer einfach. Egal in welcher Lebenssituation Kinder aufgewachsen sind, befinden sie sich doch in Loyalität zu ihren Eltern. Viele schaffen es nicht, Hilfen anzunehmen, weil sie sich nicht von ihrer Familie abgrenzen wollen und nicht als Außenseiter gelten möchten. Aber natürlich verzeichnen wir auch Erfolge, zum Beispiel wenn wir die Eltern für Veränderungen gewinnen und so eine Entwicklung für die Kinder möglich ist“, berichtet Gabi Dovern. Eine wichtige Funktion haben auch Vereine, Institutionen und Jugendeinrichtungen, die durch kulturelle und soziale Angebote von Armut betroffenen Familien ein Stück gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Der Deutsche Kinderschutzbund Alsdorf-Herzogenrath-Würselen beispielsweise lädt Familien regelmäßig zu Unternehmungen ein wie die einmal jährlich stattfindende Wochenendfahrt. „Gemeinsame Ausflüge sind Glücksmomente, die viele Familien sonst nicht miteinander teilen können“, weiß Ulla Wessels. Auch im Rahmen des Weltkindertags, der in Deutschland am 20. September gefeiert wird, sind in der Region Aktionen geplant, bei denen Themen wie Kinderschutz, Kinderpolitik und vor allem Kinderrechte im Mittelpunkt stehen.

Anzahl und Anteil der Kinder in Familien im SGB-II-Bezug im Jahr 2015: Aachen, Städteregion: 22,5 Prozent (unter drei Jahre), 23,1 Prozent (von drei bis unter sechs Jahre), 19,9 (von sechs bis unter 15 Jahre), 15,6 Prozent (von 15 bis unter 18 Jahre). Unter 18 Jahre insgesamt: 17.113 Kinder und Jugendliche. Düren: 20,5 Prozent (unter drei Jahre), 20,6 Prozent (drei bis unter sechs Jahre), 17,2 Prozent (sechs bis unter 15 Jahre), 12,3 Prozent (15 bis unter 18 Jahre). Unter 18 Jahre insgesamt: 7471. Heinsberg: 17 Prozent (unter drei Jahre), 16,9 Prozent (drei bis unter sechs Jahre), 13,1 Prozent (sechs bis unter 15 Jahre), 9,8 Prozent (15 bis unter 18 Jahre). Unter 18 Jahre insgesamt: 6016. Anmerkung: Die hier verwendete Armutsdefinition bezieht sich auf die sozialstaatlich definierte Armutsgrenze, nach der diejenigen Kinder als arm gelten, die in einer Bedarfsgemeinschaften (BG) leben, also in einem Haushalt, der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II/Hartz IV) erhält.

Quelle: Super Sonntag (Myriam Weber) 18.09.2016 Foto: Super Sonntag