Gegen die Schattenseiten von Kinder- und Jugendhilfe

Interview Geschäftsführerin Ulla Wessels mit Herr Stüber (Aachener Nachrichten)

Nordkreis Wie weit dürfen Pädagogen und Betreuer in der Kinder- und Jugendhilfe gehen? Wann beginnen Gängelung und Übergriffe, und wie können sich Betroffene wehren?

Wie weit darf Kinder- und Jugendhilfe des Staates im Namen des Kindeswohls gehen? Wann beginnt Gängelung, ab welchem Punkt kippt das Verhalten von betreuendem Personal sogar in psychische, mitunter sogar physische Gewaltausübung? Wie steht es dagegen um Beschwerdemöglichkeiten für Betroffene und deren Beteiligungsrechte bei der Gestaltung von Hilfs- und Erziehungsmaßnahmen, um (vermeintliche) Fehlentwicklungen zu korrigieren, Übergriffe aufzudecken und allein schon durch diese Kontrolloption vorbeugendes Problembewusstsein zu schaffen?

Umfangreichen Einblick in diese komplexe Materie, bei der es nicht selten um traurige Schicksale, aber zum Glück auch um Chancen auf eine bessere Zukunft geht, hat Ulla Wessels, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes (DKSB) Würselen, Alsdorf, Herzogenrath, durch ihre tägliche Arbeit. Die Geschäftsstelle des DKSB ist im Gebäude Bardenberger Straße 6 in Würselen untergebracht und unter 02405/94488 erreichbar. Weitere Informationen gibt es unter www.dksb-wuerselen.de.

Wessels weist daraufhin, dass auf Grundlage des Kinder- und Jugendhilfestärkungsgesetzes (KJSG) eine Reform der entsprechenden Sozialgesetzgebung Mitte 2021 in Kraft getreten ist. Das Gesetz verpflichtet die zuständigen Behörden unter anderem zur Einrichtung von sogenannten Ombudsstellen, die unabhängig und fachlich nicht weisungsgebunden sind. Die Jugendämter in der Städteregion Aachen bereiten hierzu gemeinschaftlich ein entsprechendes Pilotprojekt vor, das am 1. Juli beginnen soll, für drei Jahre konzipiert ist und anschließend evaluiert (sach- und fachgerecht bewertet) wird. Finanziert wird die Ombudsstelle über die allgemeine Städteregionsumlage. Auch die Stadt Aachen soll beteiligt werden.

„Die Arbeit in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe ist eine große Herausforderung und menschlich eine erhebliche Belastung.“ Es gebe zwar regelmäßig Supervisionen für die Mitarbeiter, wobei es um Beratung, Reflexion des eigenen Handelns sowie Qualitätssicherung professioneller Arbeit gehe, aber das sei kein Allheilmittel.

Zudem spielten als Ursache für „überzogene Betreuungsmaßnahmen“ Personalknappheit und entsprechende Überforderung eine große Rolle. „Strukturen zu vermitteln und auf deren Einhaltung bei der Erziehung wert zu legen, ist natürlich grundsätzlich wichtig, aber wenn auf das sture Einhalten von Regeln bestanden wird, ohne differenziert die jeweilige Situation und die sehr unterschiedlichen Individuen, um deren Wohl es geht, zu berücksichtigen, drohen diese zum Selbstzweck zu werden“, sagt Wessels und spricht von „grauer Pädagogik“.

Um dies durch „Praxisbeispiele“ deutlich zu machen, hat sie aus der Klientel, die sie betreut, eine junge Frau zum Gespräch hinzugebeten, die bis vor kurzem noch mit ihrer Tochter in einem Mutter-Kind-Heim in der Region lebte, mittlerweile aber dank Begleitung auf eigenen Füßen steht, die aber ihren Namen nicht genannt wissen möchte. Der Übergang von der Heimunterbringung in die eigene Wohnung wurde in diesem Fall übrigens finanziell durch das Hilfswerk „Menschen helfen Menschen“ unserer Zeitung und Spenden unserer Leser unterstützt, weil sich laut Ulla Wessels durch den Wechsel des Wohnortes die entsprechenden zwei Jugendämter nur bedingt zuständig fühlten. „Bürokratie gehört obendrein zu den Problemen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben“, bedauert sie.

Direkt nach der Entbindung war die junge Frau im Teenageralter in das Mutter-Kind-Heim gezogen. „Ich finde es gut, dass es solche Einrichtungen gibt, in denen man sich um junge Mütter kümmert und die Chance geboten wird, sich gemeinsam mit dem Kind zu entwickeln, um auf eigenen Beinen stehen zu können“, weiß sie im Rückblick durchaus zu schätzen. „Die Pädagogen dort helfen den Jungen erwachsen zu werden.“ Aber sie spricht auch offen von Schattenseiten. Dass Regeln einzuhalten seien, war ihr klar. Aber sie spricht von sinnloser Bevormundung, ständiger Beobachtung und Verhaltenskritik und Tadel, was alles Niederschlag in Berichten fand, ohne Einblick und Chance auf Erklärung und Widerspruch zu erhalten.

„Auch in intakten Familien stehen gerade kleinere Kinder schon mal beim Essen auf. Da würde keiner auf die Idee kommen, die Mütter anzumachen, sie müssten ihre Kinderständig im Griff haben.“ Die ganze Zeit habe über allem wie ein Damoklesschwert der angedrohte Entzug des eigenen Kindes geschwebt. Es sei sogar vorgekommen, dass eine Mutter in der Nacht von Betreuern geweckt und zu einem ernsten Gespräch geholt wurde, weil sie vergessen hatte, die Klospülung zu betätigen.

Dagegen habe es andere Situationen gegeben, in denen Mütter ihren eigenen Kindern gegenüber übergriffig geworden seien und sehr wohl korrigierendes Eingreifen geboten gewesen wäre, was aber unterblieb, so der Vorwurf. Stattdessen hätten Pädagogen vor den Müttern und den Kindern das weitere Vorgehen miteinander hin- und herdiskutiert, ohne etwas zu tun, oder aber Witze gemacht und Mütter regelrecht schikaniert. „Es ist eben ein großer Unterschied, Pädagogik zu studieren und Muttersein in der Theorie durchzukauen, statt selbst in der Situation zu sein.“

Die junge Frau wurde Sprecherin einer Intensivgruppe und nahm in dieser Funktion an Besprechungen mit Pädagogen und der Heimleitung teil. Dort wurden auch Mitteilungen, die anonym in einem Kummerkasten landeten, durchgesprochen. Eine aus ihrer Sicht sinnvolle Einrichtung. Leider meist ohne Konsequenzen, bedauert sie. So sei es letztlich schwierig gewesen, etwas für andere zu tun. Dagegen sei nach ihrer Erfahrung Kritik an den Pädagogen oft krumm und persönlich genommen worden. Mittlerweile hat die junge Frau den Haupt- und den Realschulabschluss nachgeholt. Was will sie werden? Erzieherin! „Ich möchte auf diese Weise als Dank etwas der Allgemeinheit dafür zurückgeben, dass ich eine Chance bekommen habe, mich zu entwickeln“, begründet sie ihre Entscheidung und legt lachend nach, dass sie nun die vielfältigen Erfahrungen, die sie im Guten und Schlechten gemacht hat, einbringen kann. Da dürfte sich manch zukünftiger Kollege warm anziehen. Und das ist gut so, findet auch Kinderschutzbund-Geschäftsführerin Ulla Wessels.